Die Welt in der wir leben wollen

Jemand … bat mich um einen Gefallen. „Marshall“, sagte sie, „wissen Sie, in meiner Familie gibt es einen großen Konflikt um den Ruhestand meines Vaters. Er möchte sich zurückziehen, aber zwischen meinen Brüdern gibt es einen gewaltigen Konflikt darüber, wie mein Vater unsere große Farm aufteilen will. Wir sind sogar schon vor Gericht gezogen, um das zu lösen. Es ist furchtbar. Ich könnte Ihren Zeitplan so umstellen, dass Sie eine lange Mittagspause von zweieinhalb Stunden hätten. Wären Sie zu einer Mediation bereit?“
„Sagten Sie, es geht schon über Monate?“, fragte ich.
„Eigentlich schon über Jahre“, antwortete sie. „Ich weiß, es ist Ihre Mittagspause, Marshall, aber ich wäre für alles dankbar, womit Sie uns helfen könnten.“

Also betrat ich an diesem Tag zusammen mit dem Vater und den Brüdern den Raum. Übrigens lebte der Vater in der Mitte der Farm, und jeder Sohn wohnte an einem Ende. Die Brüder hatten acht Jahre lang nicht miteinander gesprochen! Ich stellte ihnen die übliche Frage: „Können Sie mir ihre Bedürfnisse nennen?“

Der jüngere Bruder schrie plötzlich den älteren an. „Du weißt, dass du niemals gerecht zu mir warst. Du und Dad, ihr kümmert euch nur um euch. Du hast dich nie um mich gekümmert.“

Darauf sagte der ältere Bruder: „Na ja, du hast nie die Arbeit gemacht.“

So brüllten sie sich etwa zwei Munten lang gegenseitig an. Ich brauchte nichts mehr über den Hintergrund zu hören. Nach dieser kurzen Zeit konnte ich mir die Bedürfnisse beider Seiten vorstellen, die niemals ausgeprochen oder verstanden worden waren.

Weil ich unter Zeitdruck stand, sagte ich zum älteren Bruder: „Entschuldigen Sie. Könnte ich für einen Moment ihre Rolle spielen?“ Er sah etwas verwundert aus, zuckte dann mit den Schultern und meinte: „Legen Sie los.“

Also spielte ich seine Rolle so, als würde er Gewaltfreie Kommunikation beherrschen. Ich konnte aus der wertenden Art des jüngeren Bruders heraushören, welche seiner Bedürfnisse unerfüllt waren. Und ich hatte bis dahin genug über die Bedürfnisse des älteren Bruders erfahren, um sie auf eine andere Weise ausdrücken zu können. Wir machten große Fortschritte darin, den Brüdern die Bedürfnisse des jeweils anderen zu zeigen. Allerdings waren dann die zweieinhalb Stunden vorbei, und ich musste zu meinem Workshop zurück.

Am nächsten Tag kam der Vater – der bei dem Treffen mit den Söhnen dageblieben war – zur Schule, an der ich mit den Lehreren arbeitete. Er wartete draußen im Flur auf mich. In seinen Augen standen Tränen, als er sagte: „Ich danke Ihnen so sehr für das, was Sie gestern gemacht haben. Wir sind alle gestern Abend zum ersten Mal seit acht Jahren zum Abendessen ausgegangen, und während des Essens haben wir den Konflikt gelöst.“

Sehen Sie? Wenn beide Seiten einmal über das Feindbild hinweggekommen und die Bedürfnisse des anderen erkennen, ist es erstaunlich, wie vergleichsweise einfach der nächste Teil wird, nämlich die Suche nach einer Strategie, die die Bedürfnisse aller Beteiligten erfüllt. Über die Feindbilder hinauszugehen ist der schwere Teil der Arbeit. Hier geht es darum, dass die Menschen erkennen, dass sie nicht auf Kosten anderer von etwas profitieren können. Wenn das einmal geklärt ist, ist selbst das Lösen von komplizierten Dingen wie Familienstreitigkeiten kein Horror mehr, weil die Leute auf einem menschlichen Level miteinander verbunden sind.

                                                      M. Rosenberg, Die Sprache des Friendens sprechen, pp. 77, 78.