Irma Gather (1903-1994) erzählt ihre Kindheit und Jugend bis zum Jahr 1921
Die Vorgeschichte
Die Familie meines Vaters kommt aus Wuppertal. Der Grossvater hatte eine grosse Metzgerei, aber bei seinem Tod war mein Vater, der Metzger gelernt hatte nur 15 Jahre alt; zu jung um die Metzgerei weiterzuführen. Der älteste Sohn leitete das Geschäft dann weiter, und mein Vater, als jüngster Spross, sattelte um. Die Familie Sohn, mütterlicherseits, stammt aus dem bergischen Land, bei Nümbrecht. Die Landschaft ist sehr schön dort.
Mama und Papa lernten sich auf einer Beerdigung kennen, auf dem Friedhof. Sie heirateten Weihnachten im Jahr 1900 in Gelsenkirchen.
Meine Mutter und ihr Bruder haben so ziemlich gleichzeitig geheiratet. Er ging dann nach Berlin und bildete sich weiter, da er von zuhause nicht viel Geld hatte. Eine zeitlang war der Herr Sohn auch Vorsitzender vom Maklerverband in Deutschland. In der Nazizeit wurde er aus dem Amt entfernt; er wäre judenfreundlich. Aber nach dem Krieg ging es wieder aufwärts mit ihm. Beruflich gesehen war er ein erfolgreicher Mann.
Meine Eltern haben sich langsam raufgewurschtelt. In Gelsenkirchen hatten sie erst eine Geflügelhandlung und ein offenes Geschäft, in dem sie tolle Kekse verkauften. Da sie aber so nicht genug verdienten, und das dritte Kind kam, fing mein Vater ein Fuhrgeschäft in Buhr an. Wir zogen um. Von Gelsenkirchen kann ich mich nur noch an das Geschäft erinnern. Wir drei ersten Kinder sind in Gelsenkirchen geboren und Hilde 1906 in Buhr, wo wir eine Wohnung am grossen Marktplatz hatten. Ich sehe noch vor mir wie sie im Kinderwagen gelegen hat. Neidisch war ich nicht. Ich weiss nur noch wie einmal unsere Oma, die Mutter meines Vaters Christkind spielte. Mit einer Maske vor dem Gesicht schmiss sie eine Tüte mit Leckereien durchs Fenster. Ich bekam einen furchtbaren Schreck, aber nachher war alles wieder gut.
Das Leben im Hotel
Da meine Mutter immer etwas kränklich war, sind wir 1907 an den Rhein gezogen. Mit Hypothek und einer kleinen Anzahlung, kauften meine Eltern den Düsseldorfer Hof, ein gut-bürgerliches Hotel in der Ortschaft Rolandseck. Wir renovierten gründlich, karrenweise fuhren wir den Dreck raus. Mein Vater war ein ordentlicher Mann und hatte einen ausgeprägten Schönheitssinn: Hilde hat das von ihm geerbt. Eine einmalige Idee zum Beispiel war der Rolandsbogen im Garten. Den haben wir mit Lavasteinen vom feuerspeienden Berg in Godesberg gebaut.
Im Garten sass man unter spanischen Trauben. Wir Kinder standen im Sommer dauernd auf den Stühlen und naschten davon. Ausserdem befand sich im Garten noch eine Laube im Halbmondstil. Vier Treppchen führten nach oben. Sie war ganz von Heckenrösschen umgeben und es gab sechs Tische zum Kaffee trinken für unsere Gäste.
Wie wir nach Rolandseck in den Düsseldorfer Hof umzogen, war ich fünf, Robert war sechs einhalb und Hilde zwei Jahre alt. Auf einem Foto stehen wir vier Kinder mit unserem Vater vor der Laube.
Wir hatten sämtliches Obst: zuckersüsse, gelbe Mirabellen, Paradisäpfel und Pfirsiche! Wenn wir die assen, lief uns der Saft an den Händen runter!
Für unsere Enten und Gänse gab es zwei kleine Weiher. Zwischen den zwei Weihern lag ein Beet mit Blumen. Etwas oberhalb im Garten hatten wir Stachelbeeren, Bockbirnen und Pflaumen. Mein Mutter machte viel Obst ein: Johannisbeeren, Erdberen, Bockbirnen süss-sauer…
Wenn wir über die Strasse gingen, waren wir direkt am Rhein. Allerdings war da noch der Garten von den reichen Leuten. Aber links runter war man direkt am Rhein. Dort fuhren die Kaffeeschiffe: Köln-Düsseldorfer Dampfer. Es gab damals weder Autos noch Busse, also kamen die Ausflügler aus Köln und Bonn mit dem Kaffeezug oder Kaffeeschiff zu uns und machten sich einen schönen Nachmittag.
Die Sommer waren heiss. Oft hatten wir hitzefrei und brauchten nicht in die Schule. Hinten im Garten hatten wir drei kleine, schwarz-weiss karierte Häusschen, das war die Hühnerstelle. Die Sorten wurden getrennt gehalten: kleine Zwerghühner, die mein Vater mitgebracht hatte, rote Isländer und weisse Rheinländer. Die Glucke mit den Kleinen hatte noch ein extra Stelle für sich. Meine Mutter und die anderen Frauen tauschten die Hühner untereinander. Als ich sieben war, hatten wir einmal eine böse Glucke, die ihren Kückelchen solange auf den Kopf pickte bis sie tot waren. Das kann ich nicht vergessen. Eine bösartige Mutter, das gibt es auch bei Tieren.
Einen Jagdhund hatten wir auch, ausserdem ein Karussel und eine Rutschbahn.
Und dann der Wald! Im Wald, wo wir Walderdbeeren und Brombeeren suchten, war es märchenhaft. Ansonsten lagen wir im Sommer ewig im Wasser: Sonne, Wasser und Wald, eine urgesunde Zeit.
Der Winter dagegen war hart. Bei Glatteis fiel ich bestimmt zehn mal auf den Hintern, aber ich konnte nicht sagen: „Herr Lehrer, es ist Glatteis, darum kann ich nicht kommen.“ Ich finde die harten Sitten von damals gut. Wer zu spät kam, musste zehn Minuten an der Türe stehen bleiben. Da hatte ich dann eben Angst zu spät zu kommen, weil ich nicht an der Türe stehen bleiben wollte vor der ganzen Klasse.
Um grössere Gesellschaften anzuziehen hatten meine Eltern im Sommer einen Tanzlehrer namens Weisskirchen angestellt. Die ersten Töchter von Bonn und Umgebung erschienen, in weisse Kleider gehüllt, in unseren Hotel zum Tanz- und Anstandsunterricht. Hilde und ich, als Gastwirtskinder, schauten von der Türe aus dem Treiben zu. Ich sehe den Balletmeister noch vor mir: gross und schlank, wie im Film! „Und eins, zwei, drei, qua- drill- ion alles…“
Später gründeten meine Eltern einen Karnevalsverein. Der Obergärtner von Konsul Schnitzler aus Oberwinter war der Präsident. Ein andere Figur war Herr Bauer. Unser Verein hatte genau einen Wagen (!), wenig im Vergleich zur Stadt, aber ich fand es viel schöner. Mit dem Wagen fuhren sie Rolandseck, Rolandswerth, Rolandseck-Oberwinter. Abends waren bei uns Sitzungen. Wir hatten einen Saal, der gross genug dafür war. Es wurde viel improvisiert und brauchte darum nicht viel kosten: leere Bierfässer, Bohlen und ein Teppich darüber und schon war ein Tisch fertig. Bei den Sitzungen, die ab November begannen, kamen die Karnevalsvereine aus der Umgebung zu Besuch. Das lief bis zum Rosenmontag. Die Sitzungen waren lustiger und weniger politisch als heute, alles unter dem Decknamen Kaiser.
Der Geburtstag des Kaisers
Am 27sten Januar hatte der Kaiser Geburtstag. In Oberwinter führten wir mit der ganzen Schule Reigen auf. Alle Mädchen hatten damals lange Haare und zur Ehre des Kaisers und Feier des Tages trugen wir schwarz-weisse Haarbänder. Auch die Jungs trugen ein Schleifchen, alle machten gerne mit. Die Disziplin war genauso streng wie bei den Soldaten. Als Grösste war ich immer Flügelmann. Dann sangen wir, meistens dreistimmig:
Der Kaiser ist ein lieber Mann,
er wohnet in Berlin…
oder:
Es weht die Flagge schwarz-weiss-rot,
von unserem Schiffesmast…
Des Kaisers Geburtstagsessen, das ging immer um und um: jedes Jahr bei einem anderen im Hotel. Alle strengten sich natürlich jeweils enorm an. Danach kamen sie aber auch alle. Es wurde herrlich… ein wunderbares Essen.. und alles mögliche wurde besprochen, was genau weiss ich ja heute nicht mehr. Es war immer recht lustig! Ich weiss noch dass sie immer erzählt haben, dass der und der immer soviel gegessen hätte, das hab ich noch so im Kopf. Und meine Mutter musste immer Büttenreden halten. Viel Vorbereitung; wenn wir morgends in die Schule gingen, dann sass sie schon im Bett und lernte die Prologe auswendig. Sie tat es nicht gerne, aber: Geschäft, Geschäft…!
Sie ist sogar in Köln in der Bütt gewesen. Wer damals in der Kölner Bütt war, der war schon was. Meine Mutter war gross und schön, sie sah toll aus. Einmal ist sie als Weintraube gegangen. Wunderbar! Mit eimem grossen Hut voller Weintrauben und einem Kostüm in gold-gelb wie der Wein, und überall hingen Trauben. Also, wir als Kinder himmelten sie an. Was unsere Mutter alles konnte!
Der Sylvester Ball
In einen Berliner Ballen kam irgendwie ein zwanzig Mark Stück. Derjenige der das Zwanzig Markstück fand war dann Ballkönigin oder Ballkönig. Da haben wir soviel Berliner gebacken! Sie kosteten fünf Pfennig früher. Da haben die die immer nur aufgemacht. Ich weiss noch, dass in einer Ecke alles voll Berliner lag. Sie wollten nur das Zwanzig Mark Stück.
Das Schlachtfest
Am anderen Tag haben wir die Berliner dann an die Schweine gefüttert. Wir hatten zwei Schweine. Davon haben wir eins im Frühjahr und eins im Herbst geschlachtet, dann gab es jedesmal Schlachtfest im Ort. In einem solchen kleinen Ort lässt man sich immer wieder was einfallen um die Leute ranzuholen.
Der Kegelclub
Und Freitags kam der Kegelclub. Dann gab es Reibekuchen für die ganze Kolonne, weil wir eben alles hatten. Wir waren ein mittleres Hotel, kein feines, denn die haben ja nie eine Kegelbahn. Auch dadurch hatten wir mehr Umsatz.
Die Ankunft der Kaffeeschiffe
Wenn im Sommer Schiffe kamen.. meinen Vater nannten sie immer den freundlichen Herrn von der Tankstelle, das stand ja sogar in der Zeitung früher.. dann stellte er sich an die Türe und rief:
„Kommt alle herein, grosser zoologischer Garten!!“
Die Leute kamen dann alle rein und dann gab es immer etwas besonderes: Selbstgebacken so und so, Selbstgebacken so und so. Eine Schwester von meinem Vater konnte alles wunderbar backen, weil sie nämlich in ganz königlichen Häusern Empfangsdame war. Meine Mutter stand mehr am Büffet und passte aufs Geld auf.
Der Kriegsbeginn 1914
Und auf einmal kam der Krieg. Da seh ich noch das Pferd. Da kam ein Pferd vorgeritten, mit der Polizei, und hatte einen Stellungsbefehl für meinen Vater. Er war erst 38 oder 39 bei Kriegsbeginn. Er musste direkt am zweiten Kriegstag zum Militär. Für meine Mutter war es hart, sie musste nun alles alleine machen. Wir bekamen stets weniger Gäste. In der ersten Kriegszeit logierten hauptsächlich Bahnposten bei uns, grösstenteils sehr gut situierte Herren. Jede zehn Minuten ging einer mit aufgepflanztem Gewehr an den Gleisen vorbei. Da das Militär viel Material per Bahn bewegte war es wichtig die Strecke gegen Attentate zu schützen. Es ging den Bahnposten nicht darum, Deserteure zu schnappen.
Der blinde Fanatismus
Die Begeisterung unter den Soldaten war masslos: „Deutschland siegt!!“. Wie die Trauben hingen Sie an den Zügen um so schnell wie möglich an die Front zu kommen. 40 Jahre kein Krieg, endlich war es soweit. „Deutschland, Deutschland über alles!“ Sie bemalten die Züge, so eine Begeisterung wie damals habe ich im meinem ganzen Leben nie wieder gesehen. Und das wird auch nie mehr wieder kommen. Damals sind soviele Jungens gefallen. Mein Vater war zu realistisch um auch in eine solche primitieven Fanatismus zu verfallen. Er verstand sich darauf Druckpöstchen zu finden, genau wie Philipp. Sonst wäre er auch nie wieder gekommen.
Die kaufmännische Schule in Bonn
Wir mussten furchtbar viel lernen! Wie ich auf die kaufmännische Schule nach Bonn ging sass ich schon um sechs Uhr im Zug. Es fuhr nur ein Zug: um 6 Uhr 10. Erst lief ich zum Bahnhof Rolandseck und dann wartete ich in Bonn nochmal anderthalb Stunden bis Schulbeginn. Im Warteraum waren noch mehr Schüler. Es waren immer mehr Jungens als Mädchen. Wir lernten oder machten Spass. Bange war ich nicht! Ich habe lieber mitgemacht. Wir waren so um die 15, 16, 17 Jahre alt.
Ein Streich
Am Bahnhof war ein Möbelgeschäft mit einer alten Dame. Wir gingen rein und ich fragte, ehrliches Interesse vorgebend: „Haben Sie denn auch Nacht-Töpfchen?“ Das war eine Gaudi.
Der Kuss
Der Robert, mein ältesteter Bruder ist auch immer mitgefahren. Wenn er in die Klasse ging hat er erst einmal die Lehrerin geküsst. Er war ja so einer hübscher, grosser Kerl, und es war ja nur Spass, es war nichts Böses.
Nach der Schule
In Hohenzoll, wo die erste Kanone in Bonn geschossen wurde, gingen wir nach der Schule manchmal zusammen in ein Café, denn unser Zug fuhr immer erst um drei Uhr zurück. Um ein Uhr war die Schule meistens aus, sodass wir immer ungefähr zwei Stunden Zeit hatten.
Die grausamen Strafen
Die Lehrer waren im Allgemeinen sehr streng und zwangen uns übermässig viel Hausaufgaben zu machen. Wenn einer was ausgefressen hatte, musste der die Finger hinhalten und bekam mit dem Stock Schläge drauf. Es tat sehr weh. Die Jungens wurden an den Härchen hochgezogen, bis sie nicht mehr konnten und ‚Au‘ schrieen. Robert hat viel zu viel Schläge bekommen aber lachte nur dabei. Einmal platzte ihm die Hose. Er hatte so ein kleines blaues Leinenhöschen an. Der Lehrer hat so fest geschlagen wie er nur konnte. Im Tisch befanden sich eingebaute Tintenfässer, mit verschiebarem Deckel, wir kannten damals noch keine Füller, und Robert rief: „Herr Lehrer, Herr Lehrer, mein Pillemann hängt im Tintenfass !!“ Die Hose war geplatzt. Der Lehrer hätte ihn kaputt schlagen können, aber Robert hätte nie im Leben geweint. Mensch, war der Robert hart im Nehmen!
Der andere Bruder war brav und lieb. Er war nicht so schlau und musste mehr und schwerer lernen, bis er endlich was konnte. Robert konnte alles und dabei lernte er nie. Er wusste beinah alles.
Wie oft habe ich die Aufgaben für ihn gemacht! Eigentlich nur aus Angst dass er wieder so schlimm geschlagen werden könnte, aus Mitgefühl eben. Meine Mutter wurde selbstverständlich überhaupt nicht mit Ihm fertig, besonders wie mein Vater nachher im Krieg war.
Mir geht’s gut, deine Rübe !
Robert ging mit 16 freiwillig zum Militär, 1916. Meine Mutter war einesteils froh, anderenteils auch besorgt, weil sie nicht wusste ob und wann er wieder kommt. Er schrieb manchmal drei bis vier Monate nicht und sie weinte oft um ihn: „Der Junge ist gefallen…, der Junge ist gefallen..“ Sie erkundigte sich beim Batallion, bei der Kompanie. Nein, nein, alles wäre in Ordnung. Auf einmal kam eine Karte. Robert steht auf einer kleinen Feldlokomotive und schippt Kohlen.
„Liebe Mutter, mir geht’s gut, Gruss, Deine Rübe !“
Das Elend während des Krieges
Mit der Schule gingen wir einmal während des Krieges zum Ölberg ins Siebengebirge. Dort konnten wir das Donnergrollen von Verdun hören. Stalingrad und Verdun ähneln sich ja ein bisschen. Da trank einer vom anderen die Pisse um am Leben zu bleiben. Furchtbar.
Beim Rückzug waren sie nur noch Gestelle.
Im letzten Kriegsjahr hatten wir auch Hunger. Gut dass wir unseren Vater hatten! Erst war er bei der Trenk, Pferdeversorgung, und wie sich die Möglichkeit bot, wurde er Metzger. Wie er in Charleville arbeitete, fragte er Reisende ob sie so freundlich wären ihm Ihren Urlaubsschein zu leihen damit er seiner Familie ein Päckchen aufgeben könnte. So war es ihm möglich uns Fleisch zu schicken. Er schickte uns Fett oder Stücke Speck, zur Tarnung verpackt in einer Blase, es durfte ja keiner wissen. Auch Reis, eigentlich für die Soldaten, hat er abgezwackt. Die Jungens holten die Sendungen am Bahnhof ab. Manchmal waren auch schon Maden dran, die haben wir dann abgeschnitten und es trotzdem gekocht. Der Hunger war so gross, das kann sich gar kein Mensch vorstellen. Du durftest auch niemandem sagen das du was zu essen hattest.
Und dann, wie der Krieg alle war, kam die furchtbare Grippe. 20 Millionen Deutsche starben. In Köln grasierte die Epidemie besonders vernichtend. Es gab keine Medikamente oder Behandlung. Wir hatten den Krieg verloren, und sie haben uns alles abgeschnitten.
Die Soldaten brachten auch die Ruhr mit. Diese Krankheit verursacht irrsinnige Schmerzen und man muss sechs Wochen nur zur Toilette. Das einzige was man zu sich nehmen kann ist Pfefferminztee und Zwieback. Von der Ruhr wird man total schlapp.
Das Hotel wird ein Lazarett
Einmal bekam einer von den Soldaten ein Bein abgenommen. Mensch, der schrie wie am Spiess. Der ganze Saal lag voller verwundeter Soldaten. Die Schwestern und das Lazarett wurden vom Staat bezahlt. Wir bekamen 50 Pfennig für jedes Bett. Das war eine zeitlang die einzige Einnahmequelle meiner Eltern, aber durch die Soldatenküche bekamen wir auch zu essen. Unsere Familie zählte schliesslich fünf Kinder.
Das Ende des Krieges
Ja und dann fuhren die letzen deutschen Soldaten zurück, so abgemagert, dass die Pferde fast auf der Strasse umfielen. Einmal haben wir eine Wurst aus einem Militärwagen geklaut. Sie war so hart wie ein Stein. Man konnte sie unmöglich essen. Wie sollten unsere Soldaten sich von solchen Rationen ernähren? Wer weiss was da für Zeug drin war! Zeitweise haben wir sogar Ratten gegessen, Rattenleberwurst aus Hamburg. Hunger tut weh. Das war 1918.
Die letzen Soldaten fuhren mit der Fähre rüber. Wer es nicht über den halben Rhein schaffte, kam noch in Gefangenschaft. Das ganze Dorf stand am Rhein und zitterte um die letzten paar Soldaten von uns.
Honnef war frei. Wir aber gehörten zum Brückenbogen. Deutschand wurde nämlich in französische, amerikanische und englische Abschnitte eingeteilt. Manch einer schwamm nachts noch rüber nach Honnef, in die Freiheit, um der Gefangenschaft zu entgehen. Robert, die Rübe, brachte manchmal Leute mit dem Nachen nach Honnef. Er tat viel für andere Menschen.
Im zweiten Krieg rettete er ganz Rolandseck. Er sperrte alle im Schloss ein. Dort war damals der Bahnhof. Jetzt ist es ein grosses Museum von Bonn, unter Denkmalschutz. Die Familie von Paul Vincent, meinem Schulfreund, hatte dort ein Restaurant. Er und Robert hatten alle Dorfbewohner im Schloss zusammengerufen. Mein Bruder lief den Amerikanern allein und mit ausgebreiteten Armen entgegen und rief ihnen etwas zu. Ich weiss nicht mehr was, aber sein Englisch hat ihn gerettet. Es fiel kein einziger Schuss in Rolandseck. Keinen haben sie rausgeholt, er kämpfte für die Leute.
Neulich stand er noch in der Zeitung, anlässlich seines 80sten Geburtstages. Viele schickten ihm Karten und Blumen. Angst kannte er nicht. Einmal ging das Schiff unter, auf dem er zur See fuhr. Aber er ist nicht untergegangen. Er hatte diesen starken Lebenswillen.
Mein Vater kam kurz vor Kriegsende 1918 zurück aus Russland. Er trug einen langen Bart.
Die amerikanische Besatzung
Und wie die Soldaten halb über den Rhein waren im ersten Krieg, spielte die Kapelle Deutschland, Deutschland über alles und wir weinten. Ich wusste nicht was auf uns zukommt, unter der Besatzung. Und schon kam oben auf der Strasse die erste Kontrolle durchgefahren, Motorad mit Beisitzer.
Rolandseck hatte etwa hundert Einwohner; es gab nur Villen und Hotels. Am Abend hatten wir zweitausend Mann Besatzung im Ort. Im Nu waren 35 Soldaten im Haus, Zeit zum Überlegen gab es keine. Sie liefen durchs Haus und gaben auf Englisch Anweisungen. Betten zusammenrücken, hier vier Mann, da drei Mann. Wir mussten alle auf ein Zimmer. Vater und Mutter hatten ein eigenes Zimmer, mit der kleinen Leni.
Aber dann waren wir ja sehr, sehr….. angetan wie nett sie waren. Am ersten Abend brachten sie gleich einen ganzen Eimer Schmalz.
Die Amerikaner assen oft Sauerkraut mit Speck und Marmelade. Nachher kochten wir auch für sie. Mein Vater schlachtete Pferde und Kühe. Die liefen ja damals frei herum, sie gehörten keinem Menschen. Die Amis hatten im Krieg viele Entbehrungen erlitten und es schmeckte ihnen doppelt. Wir hatten fässerweise Bohnen eingemacht. Bei Bekannten in Bonn, die eine grosse Konditorei hatten, holten wir stapelweise Torten. Wir nannten sie Schaumscheisse, denn es gab doch damals gar nicht viel gute Zutaten: das meiste war Schaum!
Da haben wir unser erstes Geld gemacht. Am Büffet lernte ich rechnen: einer bezahlte mit Franken, einer mit Dollar und wieder andere mit deutschem Geld. Meistens stand ich am Schösschen, eine Kasette hatten wir noch nicht. Abends brachte ich eine Schürze mit Geld nach oben und mein Vater zählte es dann: „Ach! Endlich mal wieder Luftholen!“ Das ging ziemlich lange so. In der Zeit bekam ich drei Heiratsanträge, drei Mal hätte ich mit rüber nach Amerika gekonnt….
Mein Vater war meines Wissens nie krank. Abends ging er um 9 oder 10 Uhr ins Bett, da hatte er nichts mit zu tun. Herbert hat viel von ihm geerbt, bestimmt! Morgends stand er um 5, 6 Uhr auf und ging dazwischen. Meine Mutter schlief länger und blieb dafür abends länger auf.
Die Weinhandlung nach dem Krieg
Nach der vielen Arbeit und dem Ärger mit den Soldaten und den Schwestern war meine Mutter krank. Darum verkauften wir das alte Haus, kauften ein neues und bauten es um. Es gehört uns jetzt nicht mehr, aber es steht heute noch. Es hatte einen wunderbarer Felsenkeller, mit einem grossen Tor, wo Wasser runterlief. Diesen Keller bauten wir aus und begannen eine Weinhandlung. Mein Vater hatte schon während und kurz nach dem Kriege den Handel mit Wein angefangen: er fiel immer wieder auf die Füsse!
Vor uns hatte Familie Mehler in dem Haus eine Kuckie Fabrik, so nannte man früher Schuhputzmittel. Die Mehlers gingen nach Köln und hatten dort eine Automobilvertretung. Sie haben uns später in Essen eine Renaultvertretung angeboten. Wir schlachteten alles aus, und da wo die Kuckie waren, wurde dann immer Wein gepackt, in Kisten. Wenn ich Flaschen spülte und Wein abfüllte war ich manchmal nass bis auf den Bauchnabel. Es gab wenig Arbeitskräfte in der Zeit nach dem Krieg und wir machten soviel wie möglich selber.
Gottschalk & Murmann gegen den Rest der Welt
Mit dem Fuhrwerk holten wir Fässer vom Bahnhof ab. Wenn es gar nicht mehr ging musste ich immer kommen: „Irma, du musst mal wieder kommen! Die kriegen das Fass da nicht rauf.“ Ich sagte nur: „Was?!… ihr kriegt das Fass nicht da rauf?…“, stellte mich hin: “ Und eins… zwei… hauruck!“ und das Fass war oben. Ich hatte Bärenkräfte! Auch auf der Schule, beim Grenzballspiel, gewannen die Mädchen meistens gegen die Jungens. Wenn Amalie oder ich den Ball bekamen, wussten die Jungens schon: soweit können wir gar nicht laufen, so weit wie die den Ball wegwerfen.
Robert war ein Jahr in Battenburg in einer Weinfirma um Bürokaufmann zu lernen. Der kleine Bruder Erich ging auf die Weinbauschule in Ahrweiler. Da hatten wir schon wieder etwas mehr Geld. Ich war ein Jahr in Eisenach auf der Haushaltungsschule. Im Oktober 1920 kam ich zurück und im Januar lernte ich Philipp kennen. Im darauf folgenden Oktober war ich schon verheiratet!
Der Sommer 1921 war wahnsinnig heiss, ich sah aus wie ein Neger! Mit dem Weinhandlung gab es auch viel Spass. Das Hotel Metropol in Königswinter hatte nur einen Sohn namens Thomas. Sie wollten immer das der die Hilde heiratet. Abends kam er mit dem Böötchen angefahren, mit Kapelle und voll Wein. Wir hingen Laternen dran und fuhren mit dem illuminierten Boot samt Kapelle den Rhein rauf. Der Mond schien, wir tanzten und hatten jede Menge Spass.
Die Haushaltsschule 1919/20
Wir waren mit hundertzehn Mädchen auf dem Internat in Eisenach. Es war auch ein Seminar für Haushaltslehrerinnen. Jeder hatte seine Tageseinteilung, einer machte die Besenkammer, ein anderer den Flur… und dann gab es Kaffee! Es war spärlich: Malzkaffee, zwei Schnitten Brot und Marmelade, keine Butter. Dann mussten wir den ganzen Tag arbeiten. Drei von meinen Freundinnen aus dieser Zeit habe ich das ganze Leben die Treue gehalten. Leni Barbell und Frau Dokter kamen aus Thüringen, und Peule aus Heidelberg.
Erst hatten wir Kochen, dann Lehrmittelunterricht. Das ging zum Beispiel über den Nährwert von Mehl. Fleisch schlachten und Wurst machen gehörte auch zum Programm. Wir arbeiteten in Zweiergruppen. Grundregel war den Tisch immer sauber zu halten. Die Klassen waren verschieden. Manche gingen nur ein halbes Jahr, andere zwei Jahre. Es gibt ja Eltern die sagen ‚Hauptsache das Kind ist gut aufgehoben dort.‘
Von acht Stundentag hatten wir noch nichts gehört. Mittags und Nachmittags hatten wir je zwei Stunden frei und gingen spazieren, teilweise inklusiv Naturkundeunterricht. Stadturlaub war beschränkt auf eine Stunde. Wer nicht zeitig zurück kam, sah einer sicheren Strafe entgegen. Das Internat war am Berg gelegen, auf der Bornerstrasse. Es war ein grosser langer Bau, und ein extra Gebäude in dem die Lehrerinnen ausgebildet wurden. Wir lernten Gesellschaften, Tisch decken und dekorieren. Da ich die einzige aus dem Rheinland war, war es meine Aufgabe Karnevalsdekorationen zu machen. Selbst Nähmaschinen nahmen wir auseinander, damit wir wussten wie sie funktionierten. Frau Börrlin leitete unsere Klasse.
Trude, das Genie
Eine meiner Freundinnen war Trude Herrmann aus Berlin-Rathenau. Ihr Mann kam krank aus dem Krieg wieder und starb. Das traf sie hart. Von ihr lernte ich mehr als von der ganzen Schule, sie war ein Genie. Sie war wohl ein paar Jahre älter als ich. Sie malte, flickte und kochte, sie konnte einfach alles. Auf Männer war sie sehr flott eingestellt. Eine männerscharfe Nudel war sie! Sie fotografierte und entwickelte selber — in der Zeit war das sehr fortschrittlich. Das konnte der Tausendste noch nicht. Ihr Elternhaus war nicht übermässig reich, von Hause aus hatten sie eine Ledergerberei — einmal sahen wir im Schaufenster eine schöne Schreibmappe: „Mensch, Irma, die können wir uns selber machen!“ Sie packte einen Bleistift, machte ein paar Skizzen, kaufte schwarzes Leinen, Wolle und dann machte sie die Schreibmappe.
Bei ihr zuhause, bei ihren Eltern, hatte sie sich aus Weinkisten ein Frisörtoilette gemacht, aus Seiden und Stoffresten zauberte sie im Nu ein Sofakissen oder einen Würfel. Karakterlich war ich vielleicht nicht immer auf einer Linie mit ihr, aber Genie kann man ihr nicht absprechen.
Minna und die falsche Sahne
Im Internat haben wir oft nächtelang gelacht. Bei der bildschönen Peule Schmücker lernte ich richtig Kaffeekochen.
Die anderen nannten mich Minna, da ich einen guten Charakter hatte und immer hilfsbereit war. Ich war ausgeglichen und lustig. Kaffeekochen durfte ich nicht, da habe ich mich schon geärgert. Ich wahrte dennoch diplomatisches Stillschweigen. Die meisten hatten mich gern. Manchmal sangen sie für mich.
Irma, du bist meine Sonne, hollahiaho
alles schreiet voller Wonne, hollahiaho
Trude wusste natürlich wieder wie man falsche Sahne machte und ich „besorgte“ die Sachen, die sie nötig hatte in der Küche: Schneebesen, Schüssel, Griesmehl…
Abenteuer in der Stadt
Zweimal blieben Trude und ich über die Zeit in der Stadt, als wir uns mit Jungens trafen. Wir wurden erwischt. Von unseren Direktorinnen hiess die eine Qualle, weil sie so dick war und die andere Bremse, scheinbar die tüchtige…
Trude mit dem grossen Mund! Jetzt wo es drauf ankam, sagte sie: „Geh Du rein, geh du rein!“ – „Ja, ich geh rein“, sagte ich, „die schlägt mich doch nicht tot!“ Die Direktorinnen schimpften uns aus und wir bekamen zur Strafe wochenlang Ausgehverbot.
Andere gingen nachts aus, wir standen auf dem Balkon und winkten wenn die Luft rein war zum zurückkommen. Es waren neugierige Mädchen unter uns, die wollten was erleben. Die fünfzehnjährige Lole aus Wien war allerdings naiv. Sie hatte ein Einzelzimmer, war wohl aus sehr reichem Hause. Mit der Kerze stand sie draussen auf den Balkon während unten die jungen Männer von der höheren Schule sangen:
Die Weiber auf der Welt,
sind schlechter wie das Geld
mit ihrem lieben…
Von der Kerze erhellt bot Lole in ihrem dünnen Negligé einen prächtigen Anblick für die Freier.
Der Besuch in der Hauptstadt
Nach dem Internat besuchte für drei Wochen meinen Onkel in Berlin. Das war im November/Dezember 1921. Er wollte mich immer adoptieren, so gern hatte er mich. Meine Freundinnen aus der Berliner Ecke traf ich natürlich auch. Eine war aus Charlottenburg und eine aus Oranienburg. Kaffetrinken im Café Kranzler. Ich weiss nicht wie ich es geschafft habe mit der U-Bahn fertig zu werden. Ein Wunder. Der Bruder meiner Mutter, Willi Sohn, bestellte eine Hellseherin. Er fragte Frau Rose: „Was wird mit meinem Irmchen?“ Sie schaute mich an: „Nächstes Jahr Weihnachten ist Irmchen verheiratet. Sie wird gut heiraten und kriegt drei Kinder.“ Und so kam es dann auch.
Anhang
Bilder von Rolandseck und der Familie Murmann
Die Eltern
Das Paar heiratete im Dezember des Jahres 1900 in Gelsenkirchen und hatte fünf Kinder.
Die Kinder der Familie Lisette und Robert Murmann
Wie dieses Pamphlet entstand
Den Text habe ich anhand eines Interviews aus dem Jahre 1981 zusammengestellt. Das Interview mit meiner Oma, die ein großes Erzähltalent hatte ihr bewegtes Leben anderen mitzuteilen, hatte ich seinerzeit auf Tonband aufgenommen.
Zwölf Jahre später, anlässlich Oma Irma’s neunzigjährigem Geburtstag, am 1. April 1993, habe ich das Interview transkribiert und als Geschenk überreicht.
Im Jahre 2002 überarbeite Margot Rudolph-Gather den Text. Im Anhang haben wir einige Bilder von Rolandseck und der Familie Murmann hinzugefügt.
Ich wünsche allen Lesern viel Spass beim Entdecken einer lang vergangenen Zeit.
Berlin, im März 2004
John-Philipp Gather