Was ist Gewaltfreie (Wertschätzende) Kommunikation?

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Interview mit John Gather, veröffentlicht in „starke eltern starke kinder“ – Deutscher Kinderschutzbund Jahresheft 1/2023, S. 44-48

Marshall B. Rosenberg nennt die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) auch „Sprache des Herzens“. Dabei geht es im Grunde genommen einmal darum, ehrlich zu sagen, was man fühlt und braucht. Und zwar, ohne andere zu kritisieren oder etwas von ihnen zu fordern. Und einmal geht es darum, anderen mitfühlend zuzuhören. So, dass sie sich verstanden und nicht verurteilt fühlen.

Wie geht das nun genau? Das und mehr hat Anke Gasch den Kommunikationstrainer John Gather gefragt.


John, wie funktioniert die Gewaltfreie Kommunikation nun genau?

Tja, im Grunde kannst du die ganze GFK in einem Satz ausdrücken: „Ich möchte, dass du das und das machst. Aber nur, wenn du es mit Freude tun kannst.“ Dazu gibt es vier hilfreiche Schritte, auf die wir unsere Aufmerksamkeit lenken können, wenn wir im Gespräch sind. Am Anfang aber steht Schritt Null: Du steigst aus deinem typischen Verhalten in einer bestimmten Situation aus, indem du tief atmest und dich fragst: Was ist denn gerade mit mir los? Wie geht es mir in meinem Körper? Was denke ich? Danach, bei Schritt eins, gehst du in die Beobachtung ohne Interpretation. Du schilderst neutral, was du mit deinen Sinnen wahrnimmst. In Schritt zwei sagst du, was du in deinem Körper fühlst: Angst, Wut, Trauer, Enttäuschung … In Schritt drei sprichst du über dein Bedürfnis, das immer ein abstrakter Wert ist, du kannst es nicht filmen. Und im vierten Schritt äußerst du eine Bitte, die genau sagt, was du dir wünschst, und die im Moment auch erfüllbar ist wie: „Ich möchte verstehen, was in dir vorgegangen ist, als du mich heute Morgen angeschrien hast. Bist du bereit, jetzt mit mir darüber zu sprechen?“

John, lass uns an einem Beispiel noch konkreter werden. Nehmen wir an, meine Tochter sitzt am Smartphone, obwohl ihre Medienzeit längst vorbei ist. Das macht mich wütend. Und besorgt bin ich auch: um ihre Gesundheit und ihre schulischen Leistungen. Ich will, dass sie das Ding weglegt. Kann ich ihr das gewaltfrei vermitteln? Und wenn ja: wie?

Das kannst du leider nicht gewaltfrei oder wertschätzend vermitteln. Weil du ja schon die Lösung im Kopf hast. Für dich ist klar: Sie soll das Handy weglegen.

Wenn du eine Verhaltensänderung bewirken möchtest, ist für mich immer die Frage: Wie willst du sie bewirken? Willst du es partnerschaftlich tun, mit dem Einverständnis beider Seiten? Oder willst du durchsetzen, was du im Sinn hast? Geht es dir ums Durchsetzen, kannst du das allerdings auch in Liebe tun. Du kannst in Liebe Nein zur weiteren Handynutzung sagen. Vor allem, wenn deine Tochter noch klein ist. Dabei machst du gleichzeitig klar, wozu du Ja sagst: „Ich nehme jetzt dein Handy. Denn ich möchte gerne für die Gesundheit der Familie sorgen. Mir ist wichtig, dass du noch draußen spielst. Mir ist klar, dass dir das überhaupt nicht passt. Dass du viel lieber frei entscheiden möchtest, wie lange du am Handy bist. Aber ich habe noch die Verantwortung dafür, wie es dir langfristig geht, und die möchte ich übernehmen.“

Wir können nicht alle Bedürfnisse unserer Kinder erfüllen. Aber wir können es würdigen, wir können mittrauern, wenn sie nicht erfüllt werden. Das ist ein großer Unterschied zum Einfach-Verbieten.

Und wenn ich das nicht will, sondern die Frage der Handynutzung wirklich partnerschaftlich angehen möchte, was mache ich dann?

Dabei, wie auch beim Nein-in-Liebe-Sagen, ist entscheidend, dass du überhaupt erst mal weißt: Warum ist dir so wichtig, dass sie das Handy weglegt? Sonst kannst du deinen Wunsch gar nicht äußern. Frage dich dazu: Was macht es mit mir, wenn mein Kind ins Handy schaut?

Welche Gedanken und Befürchtungen habe ich? Vielleicht denkst du: Das Kind interessiert sich nur noch für das Handy. Was macht es da: Hat es Kontakt zu Inhalten, die seiner seelischen Gesundheit schaden? Deine Gedanken sind dein Wegweiser. Sie führen dich zum Grund für dein Unwohlsein. Wenn du klar hast, es geht dir wirklich um die Gesundheit, kannst du das Gespräch suchen – mit der Haltung „Ich möchte mich verstehen und auch verstehen, was meine Tochter möchte“. Wenn du nicht in dieser Haltung bist, ist kein ehrliches und tatsächlich gewaltfreies Gespräch möglich. Dann bist du nicht bereit dafür und machst es wie immer. Mit den entsprechenden Folgen, die das für die Beziehung haben kann.

Bist du aber in dieser neugierigen Haltung, sagst du zum Beispiel: „Wenn du länger mit dem Handy da sitzt, als mir angenehm ist, fühle ich mich ganz unwohl. Das ist so, weil mir wichtig ist, dass wir alle in der Familie gesund sind. Ich habe da nämlich Verschiedenes gelesen, was bei langer Handynutzung Schlimmes passieren kann. Und mir wäre jetzt wichtig zu hören: Was hast du verstanden, was mir wichtig ist. Würdest du mir das sagen?“

LINKTIPPS
Onlinekurse vom Hamburger Institut für Gewaltfreie Kommunikation: ➳ https://www.gewaltfrei-kommunizieren.hamburg/terminkalender/?date=2023-01
Zoom-Kurs: Konflikte auf der Basis von Bedürfnissen lösen – vier Termine für mehr Familienfrieden: ➳ https://johngather.de/de/konflikte-auf-der-basis-von-bedurfnissen-losen

Der Hauptpreis wäre, wenn deine Tochter jetzt sagen würde: „Ich habe verstanden, dass du möchtest, dass alle in der Familie gesund sind. Stimmt das, Mama?“

Das fühlt sich gut an. Aber dass so eine Antwort kommt, ist meiner Erfahrung nach unwahrscheinlich …

Genau. Wahrscheinlicher ist, dass das Kind sagt: „Ja, ja, ist klar, ich soll das Handy weglegen!“ Oder auch: „Äh? Was redest du so komisch?“ Oder schlicht: „Nein!“

Das wäre ein Punkt, an dem viele aufgeben oder wütend werden und das Handy einfach wegnehmen. Wenn du aber weiter die partnerschaftliche Haltung leben willst, betrachtest du das Nein allerdings als ein Geschenk.

Die andere Person will dir gerade dabei helfen zu verstehen, wie ihr eure Bedürfnisse beiderseitig erfüllen könnt.

Denn hinter jedem Nein steckt ein Ja zu einem schönen Bedürfnis. Und in der partnerschaftlichen Haltung bist du neugierig darauf.

Ich finde ja, eine der größten Herausforderungen ist es, an solche Bedürfnisse heranzukommen. An die eigenen wie an die von anderen. Hast du da noch ein paar Tipps?

Ja! An Bedürfnisse kommt man gut über die eigenen Urteile heran. Oder über die, die andere äußern. Vielleicht sagt jemand: „Das ist aber frech!“ Dann ist klar: Die Person möchte, dass Menschen nicht frech sind. Und dann kann ich mich fragen: Wie sind „nicht freche“ Menschen denn? Wünscht die Person sich Höflichkeit? Respekt? Freundlichkeit? Was alles ist „nicht frech“? Zuvorkommenheit? Geduld? Da kommt immer mehr, je länger man drüber nachdenkt. Oder wünscht die Person sich Rücksicht? Möchte sie gefragt werden, bevor etwas passiert?

Du kannst dich auch fragen: Was ist das erwünschte Verhalten? Und welches Bedürfnis würde es dir erfüllen? Welches erfüllt sich, wenn dein Kind pünktlich heimkommt? Sicherheit? Verlässlichkeit? Ruhe?

Der Herr XY ist so ein fieser Lehrer!“ – Wie können Eltern in so einem Fall mitfühlend zuhören?

Mitfühlend zuhören, das bedeutet, wir richten unsere Aufmerksamkeit auf das, was die Bedürfnisse im Herzen unserer Kinder sind. Wenn Menschen reden, sagen sie immer etwas über ihre Bedürfnisse. Wenn du mitfühlend zuhörst, willst du nichts verändern, dann bist du einfach nur da für jemanden. Du fragst dich: Wie ist das in einer Welt, in der Menschen nicht fies sind? Was ist „nicht fies“? Liebevoll vielleicht? Oder gerecht, fürsorglich, rücksichtsvoll?

Damit ist man bei den möglichen Bedürfnissen des Kindes. Und mit einer neugierigen Haltung im Sinne von „Ich bin hier für dich und ich höre dir gerne zu“ fragt man erst mal bei dem Kind nach: „Du scheinst ja ziemlich sauer zu sein, was ist denn passiert?“

So öffnet man den Raum dafür, dass ein Kind mehr erzählen kann und man selbst besser versteht, welche unerfüllten Bedürfnisse es hat.

KOMMUNIKATION, DIE MENSCHEN TRENNT
Kind (wütend): „Ich geh da nie wieder hin. XY ist so ein Idiot!“
Mutter (mit bester Absicht, das Kind zu beruhigen): „Na, so schlimm wird es schon nicht gewesen sein.“

Was das Kind nun denken könnte:
• Sie glaubt mir nicht. Okay, dann brauche ich ihr so was gar nicht mehr zu erzählen.
• Sie interessiert sich gar nicht für mich. Sie will nur ihre Ruhe.
• Sie glaubt, mit meinen Gefühlen stimmt was nicht. Wem soll ich trauen? Ihr oder mir?

KOMMUNIKATION, DIE MENSCHEN VERBINDET
Kind: „Ich geh da nie wieder hin. XY ist so ein Idiot!“
Mutter (neugierig zu erfahren, was hinter der Wut ihres Kindes steckt): „Oh. Das klingt, als wärst du stinkwütend. Magst du mir erzählen, was passiert ist?“

Was das Kind nun denken könnte:
• Ja. Mama hat mich verstanden!
• Mama hat noch nicht verstanden, wie schrecklich die Situation wirklich ist. Aber sie interessiert sich für mich. Ich kann ihr jetzt alles erzählen.

Jetzt schildert das Kind eine ungerechte Handlung. Vielleicht hat der Lehrer gesagt: „Mit dir und Mathe wird das eh nie was!“ Und dann werde ich als Mutter oder Vater wütend …

Ja, das passiert. Dann kannst du dir selbst Mitgefühl geben für deinen Schmerz, dass deinem Kind Schmerzen zugefügt wurden. Und weiter bei deinem Kind bleiben kannst du, indem du das wahrnimmst und dich entscheidest, deine Aufmerksamkeit beim Kind zu lassen und dich später um dich selbst zu kümmern.

Dann könntest du sagen: „Du bist richtig wütend und enttäuscht, dass XY so was zu dir sagt. Du hättest dir Hilfe gewünscht. Ist das so?“ Vielleicht liegst du damit richtig. Wenn nicht, kannst du um mehr Informationen bitten.

Informationen bekommen. Das ist ein gutes Stichwort. Hast du dazu noch einen Tipp?

Ein schöner Satz dazu ist immer: „Denkst du eigentlich, dass ich dich genug verstehe?“

Dann kommt vielleicht raus: „Eigentlich schon, aber manchmal …“ Und du bekommst neue Informationen.

Umgekehrt kannst du dich auch fragen: „Fühle ich mich genug verstanden in meiner Familie? Oder gibt es da einen Punkt, wo so viel Schmerz ist, und ich traue mich gar nicht hinzusehen, weil ich große Angst habe, nicht verstanden zu werden?“ ■

BEDÜRFNISSE

Alles, was wir tun, tun wir aus einem guten Grund: Es gibt ein Bedürfnis, das wir uns damit erfüllen wollen. Damit sind Bedürfnisse der Motor für unser Handeln oder Nicht-Handeln. Und alles, was andere uns vermeintlich antun, ist immer nur das Beste, was ihnen einfällt, um sich ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Aber was kennzeichnet ein Bedürfnis? Es ist allgemeingültig und unabhängig von bestimmten Personen, Umständen oder Dingen. Und alle Beteiligten haben Wertschätzung dafür.

Bedürfnisse sind z.B.: Austausch, Gerechtigkeit, Nähe, Respekt, Unabhängigkeit, Freiheit, Privatsphäre, Wertschätzung, Ehrlichkeit, Toleranz, Feiern, Bewegung, Vertrauen, Harmonie, Spielen …

Ein Bedürfnis lässt sich auf vielen verschiedenen Wegen erfüllen.
Diese Wege nennt man in der GFK auch Strategien. Ideal ist es, wenn man Strategien findet, die die Bedürfnisse aller Beteiligten erfüllen. Der Vater möchte Ruhe, sein Kind spielen? Dann könnte er sich fragen: Gibt es die Möglichkeit, ein Spiel zu spielen, bei dem ich zur Ruhe komme?