Ohne Herzenswärme ist es kalt in der Welt

Botschaften aus der Innenwelt eines Autisten

von David Luczyn

Wenn ich den folgenden Bericht über ein Internationales Intensivtraining mit Marshall Rosenberg und mit einem autistischen Teilnehmer namens Uwe lese, fühle ich mich inspiriert, mit weit offenem Herzen und sehr beschenkt. Die Situationen stärken in mir die Vision von einer Welt, in der alle von Herzen beitragen und mit dem Herzen empfangen können – jede und jeder in seiner Eigenheit, eine Welt tiefer Schönheit.

Wie geht es euch nach dem Lesen dieses Berichts? – John


Das Seminarhotel Orchidea Lodge in den Schweizer Jurabergen lag knapp 1000 m hoch und bot eine schöne Aussicht weit ins Land. Auch die Erwartungen der rund 50 Teilnehmer am neuntägigen International Intensiv Training in Gewaltfreier Kommunikation mit Marshall Rosenberg waren sehr hoch, als wir uns zum ersten Mal im großen Gruppenraum zusammenfanden. Zu meiner/unserer großen Überraschung war auch ein – gelinde gesagt – unüblicher Teilnehmer in der Runde, der eine mir völlig fremde Ausdruckweise hatte, die mich eher an einen Orang Utan, denn an einen Menschen erinnerte. Uwe (32 J.), so hieß dieses “Wesen”, war in konstanter Bewegung, hielt einen kleinen roten Ball in der Hand, schlug sich gelegentlich an den Kopf und wedelte konstant mit einem alten Tuch vor seinem Gesicht herum. Alle paar Minuten stieß er undefinierbare Laute aus, die nicht nur mich immer wieder zusammenzucken ließen. An ein konzentriertes Zuhören war bei diesem mitten im Raum auf einer Matratze sitzenden Energiebündel erst mal nicht zu denken. Dazu kam, dass Lena, die ihn betreuende ältere weißhaarige Frau, permanent mit ihm im Clinch lag, um ihn zu beruhigen.

“Na toll!” dachte ich, “das kann ja heiter bzw. anstrengend werden.” Und ich erinnerte mich daran, dass eine Bekannte mir kürzlich erzählt hatte, dass Uwe und Lena auf einem anderen Seminar bereits für reichlich Stress und Streit gesorgt hatten.

Marshalls kurze Vorstellung von Uwe nach einer halben Stunde kam dann auch sehr überraschend und sorgte für weitere Verwirrung. Er sagte: “Darf ich euch meinen Kollegen Uwe vorstellen. Uwe ist jemand, der mich besser kennt als ich mich selber, auch wenn das auf den ersten Blick nicht so aussieht. Er war auch auf meinem vorherigen Seminar und es tut ihm sehr gut hier sein zu können.” Uwe schien das zu verstehen und quittierte es mit einem lauten “Uuuh-aaah!” Dies sollte der Anfang einer Reise in eine fremde Welt für uns werden, die keinen unberührt ließ. Aber noch wussten wir das nicht und es bleib bei einer Irritation. Neben seiner Unruhe verwirrten auch seine unbeholfenen Kontaktversuche, wie zum Beispiel blitzschnell jemandem, der in der Nähe saß, eine Socke auszuziehen oder jemanden zu sich auf die Matratze zu ziehen. Erfreulicherweise gab es auch Phasen, wo er einfach schlief und nur ein Schnarchen an seine Gegenwart erinnerte.


Der nächste Tag begann für die meisten von uns schon sehr früh, nämlich um 5 Uhr morgens, weil Uwe in unartikulierten Lauten am Fenster stehend in die Welt hinausschrie. Er war in der Mitte des Hauses mit Lena untergebracht und schien Höllenqualen zu leiden. Wer in der Nähe war – wahrscheinlich das ganze Haus – litt unfreiwillig mit. Da half auch kein Oropax. Während des ersten Morgensharings bekamen wir dann eine Erklärung, die jedoch anders ausfiel als erwartet: Sie kam von Uwe persönlich in Form einer schriftlichen Mitteilung, die vorgelesen wurde. Sie war mit Hilfe des “unterstützenden Schreibens“ auf Computer (alternativ auf einem Holzbrett mit Tastaturbuchstaben) entstanden. Bei dieser Art des Schreibens wird die Hand leicht mit Gegendruck gehalten und Uwe tippt (ohne hinzuschauen) auf einzelne Buchstaben seine Sätze. Aber hier erst mal die Botschaft:

Ich bin Uwe.
Leider schaffe ich es noch nicht hier zu sprechen. Ohne Verbalsprache bin ich in mir sehr unruhig und das dann auch mit dem ganzen Körper. Ich denke in mir, ich will es aussprechen und dann ist in mir die Sperre. Manchmal schreit es dann aus mir raus, das ist wie ein Vulkan der erst einmal wieder speien muss, weil es innen brodelt. Tut mir selber weh, wenn ich die Menschen damit so erschrecke, es ist ein Vulkanausbruch, der was raus bringt. Es ist heftig und danach wieder gut. Bitte erschreckt nicht zu sehr, falls es mir mal passiert, ich hoffe es passiert mir nicht im Seminar.


Ich bin sehr traurig, weil ich es vor innerem Schmerz fast nicht aushalte. Ich möchte vor mir selber untertauchen in ein Meer – es müsste ein Meer sein mit regelrechtem Wegsein von allen Schmerzen, frei von Wesen die miteinander um ihr Überleben kämpfen, weil sie Nahrung für andere sind. Reden will ich darüber, wenn es kommt, mit dem Schmerz, nicht erst mit Lenas Stütze schreiben. Reden, reden, reden – das will raus. Und ich erfahre immer wieder, da ist die Sperre in mir dann. Es ist gut hier zu sein, es ist erst großer Schmerz jetzt und was wird noch kommen, mit Schmerz, frage ich in mir und habe ANGST: jetzt geht es schon wieder los in mir. Es tut so weh, es tut weh, sehr weh. Zuerst dachte ich, es kann gar nicht noch schlimmer werden, es ist genug und dann war es wieder da. Jetzt bin ich froh zu schreiben und dankbar, dass du, Lena, uns hast ins Auto steigen lassen. Wenn es doch aufhören würde, in mir drinnen, mit dem Schmerz. Ich brauche Ruhe, ich will in den Seminarraum gehen, um dort zur Ruhe zu kommen. Fertig.

Betretenes Schweigen im Raum. Lange sagt niemand etwas, dann drücken Einzelne ihre Betroffenheit aus und danken für die Offenheit. Es sollte nicht die letzte Botschaft sein und öfters konnten wir auch live miterleben wie Uwe auf diese Weise sich verständlich machte, wenn ihn etwas sehr bewegte. Zum Beispiel fing er einmal während eines Vortrages von Marshall urplötzlich an zu schreien und sich die Ohren zuzuhalten. Dies geschah, als Marshall an einer Stelle über den alltäglichen Kampf zwischen Gut und Böse, wie er im Fernsehen dargestellt wird, sprach. Die Guten besiegen immer mit Gewalt die Bösen und töten sie meistens auch noch. Dieses Konfliktlösungsmodell lernen Kinder in fast allen Filmen in durchschnittlich 6 Stunden täglich (in USA). Für Uwe schien dieses Thema schmerzhafte Erinnerungen auszulösen. Er wirkt verstört, schreit gequält und läuft hin und her. Marshall schaut ihm nur still zu und fühlt sich in ihn ein. Nach ca. 5 Minuten hockt sich Uwe auf den Boden und wippt und wedelt mit einem Schweizer Fähnchen vor seinem Gesicht, dann zieht er eine Teilnehmerin zu sich herunter und kurz darauf eine weitere. Alle machen es sich bequem, Uwe angelehnt an die eine und gestreichelt von der anderen. Bei einer anderen Gelegenheit wird Marshall von Uwe zu sich runter gezogen und bleibt bei ihm bis er sich beruhigt hat. Szenen, die viele berühren.


Aber Uwe kann auch anders – er kann lachen und sich freuen, wobei er sich mit dem ganzen Körper schüttelt. Überhaupt liebt er Gesellschaft und am wohlsten fühlt er sich in der Mitte der Gruppe. Beim Essen mit traumhafter Panorama-Aussicht liebt er es zwischen den Teilnehmern zu sitzen und sich von Lena füttern zu lassen. Danach macht er gerne Späßchen, Grimassen und zupft an Frauen und freut sich diebisch, wenn sie reagieren.

Am nächsten Tag überrascht er uns alle mit einem persönlichen Geschenk: Lena hat über fünfzig von Uwe gemalte Bilder in monochromer Farbigkeit (meist Rot, Gelb und Ocker) umgedreht ausgebreitet, die alle mit einem kurzen Spruch von ihm versehen sind. Jeder darf sich eines ziehen und folgender Text wird dazu vorgelesen:

Ich bin wieder traurig, weil der Schmerz da ist in mir. Traurig darüber wie ich bin, traurig, dass ich es nicht verbal mitteilen kann. Trotzdem bin ich froh ich zu sein und freue mich heute euch die Bilder zu geben, die keine künstlerische Arbeit sind, sondern Ausdruck meines Inneren. Ich habe viel Bilder in mir und kann sie leider nicht in der Fülle und Schönheit aufs Papier bringen, wie sie in mir sind. Es wäre ein Fest für mich, wenn ihr euch freuen könntet darüber. Das große Bild habe ich für dich Marshall gemalt. Es soll ausdrücken, wie du die GFK über die ganze Welt trägst, in dem tiefen Wunsch für mehr Frieden. Geht es das Bild zu fotografieren, damit alle Trainer es mitnehmen können? Fertig

Danach herrscht erst einmal betroffene Stille. Irgendwie ist es einfach immer wieder unvorstellbar, dass Uwe so ein differenziertes Innenleben haben könnte, wie es nun auch an den Sprüchen deutlich wird, die einige – teils unter Tränen – vorlesen.

Herzen werden warm, wenn wir keinen Kampf ausleben miteinander.

Große Dinge geschehen oft im Verborgenen.


Greift ein in das Treiben der Welt, indem ihr selber Frieden habt mit euch.


Ich habe Respekt vor dem kleinsten Lebewesen, es regt mich auf, wenn wir es abwerten, denn es lebt seinen Auftrag.


Ohne Herzenswärme ist es kalt in der Welt.


Recht haben wollen kann nie dazu führen, dass Frieden kommt.


Ohne Dunkelheit gibt es kein Licht, ist das klar?


Lasst uns zuerst reden über den Frieden in uns und dann in der Welt.


Traut euch mehr zu zeigen was in euch ist. Es kann wesentlich zu Ehrlichkeit führen.


Jeder von uns ist ein Frieden- oder Gewaltträger. Es liegt an uns, was wir leben.


Lieber was wir in uns fühlen, als denken, was der andere dazu denkt


Am Nachmittag nutze ich die Gelegenheit mit Fulvia Liebendörfer zu sprechen, die zu Besuch war und hauptberuflich mit autistischen Menschen arbeitet. Von ihr erfahre ich, dass nach medizinischem Weltbild sowohl genetische Störungen, Geburtskomplikationen als auch fehlende Zuwendung, bzw. Verwahrlosung als Ursache gelten. Eine Therapie ist schwierig. Nur selten gelingt es Autisten zum Sprechen zu bringen. Andererseits haben manche Autisten nach ihrer (und Lenas) Erfahrung auch ungewöhnliche Fähigkeiten, z.B. ein fotografisches Gedächtnis. Uwe hat wohl damit, ohne dass es lange bemerkt wurde, Lesen gelernt. Ein Blick auf die Tafel oder eine Buchseite langte ihm, um den Inhalt dann inhaltlich abzulesen. Auch Telepathie oder Hellhören scheint zu den Fähigkeiten zu gehören, wie mir Lena und Fulvia an einigen Beispielen aus ihrer Erfahrung beschreiben. Uwe weiß oft genau, was Lena vorhat oder plant ohne dass sie etwas zuvor gesagt hat. Einen diesbezüglichen Kommentar erhalten wir später wieder von Uwe selbst.

Ich innerlich Aufgewühlter will euch sagen, ich lerne wie schwer es ist auch nur in eurer Welt zu leben. Ich erkenne es immer mehr durch die Seminare, wie schlimm es ist den anderen Menschen nicht innerlich zu verstehen. Dagegen ist es für mich sehr belastend, dass ich eure Gedanken sehe und mich schützen muss, damit fertig zu werden. Glaubt mir, ich bin auch innerlich voll dabei, wenn ich schlafe. zuerst kann ich dann etwas mir selber Einfühlung geben, dann besser sortieren, eure Worte und euer Denken, und besser auseinanderhalten was von wem an Denken kommt. Tatsächlich kann ich mich dadurch regelrecht besser sortieren. Fertig.

Ein anderes Beispiel: Ein autistischer Junge sieht auf einer kleinen Straße ein Auto auf sich zukommen und hat eigentlich gelernt dem auszuweichen. Zur Verblüffung der Betreuerin, die ihn von der Straße ziehen will bleibt er stur – und erlebt wie das Auto kurz vor ihnen in einen kleinen Seitenweg abbiegt. Zufall oder Präkognition? Fulvia ist von letzterem überzeugt.


Auch wenn Uwe nicht so aussieht oder es sich nicht anmerken lässt, scheint er auch an inneren Prozessen von Teilnehmern Anteil zu nehmen. An einem heißen Nachmittag hat Marshall eine Heilungssitzung angesetzt und begleitet einen Teilnehmer durch einen einstündigen Prozess von Wut, Ohnmacht, Schmerz und Trauer. Uwe sitzt die ganze Zeit relativ still nur mit seinem Schweizer Fähnchen wedelnd dabei. Am nächsten Morgen liest uns Lena folgende Botschaft vor:

Ich bin erfüllt von deinem Prozess, Frank. Ich bin so froh, dass meine eigene Not, die ich habe, wegen dem nicht Sprechen können, die ich in dem Text ausgedrückt habe, dir geholfen hat es zu tun. Es hat mir Mut gemacht. Ich werde es auch noch schaffen. Ich danke dir, dass du es geschafft hast. Sehr gut zu erfahren, wie die Not in euch ist. Danke Marshall, danke euch allen, danke den Geistwesen, die helfen kamen. Danke dem Universum mit seiner Fülle. Tut gut, das jetzt zu schreiben. Tut weh, es nicht sagen zu können.

Wie schon oft drücken auch dieses Mal Teilnehmer ihre Betroffenheit und ihren Dank darüber aus, was sie durch und mit Uwe erleben. Mittlerweile ist er ein integrierter Bestandteil des Seminaralltags. Er ist des öfteren mit uns alleine auf der Terrasse oder im Gruppenraum und Lena wirkt von Tag zu Tag entspannter, weil sie nicht mehr alleine rund um die Uhr Verantwortung tragen muss. Eine Arbeit um die sie sicher keiner beneidet, die sie seit nunmehr 26 Jahren mit Uwe macht.

Nach neun Tagen sind jedenfalls alle froh und dankbar, dass Uwe dabei war und eine Teilnehmerin verspricht aus den Bildern von Uwe einen Kalender zu machen und diesen an alle zu verschicken. Auch ich habe eine neue Welt kennen und Staunen gelernt.

Hier noch Uwes Abschlusskommentar:

Ich grüße alle Teilnehmer und danke, dass ich angenommen war, ich zertrete erst mal alle dummen Angewohnheiten in mir, das geht gewaltfrei. Wenn in mir Wolfsgedanken kommen, nehme ich sie liebevoll an, sie sind ein Teil von mir. So kann die Giraffe in mir wachsen. Es ist ebenfalls ein Teil von mir. Sehr gut ist, ich kann mich regelrecht immer mehr selber annehmen und das ist liebevoll mit mir selber sein. Fertig.


Kurzinterview mit Uwe:

Was ist Dein größter Wunsch?
Mein größter Wunsch ist sprechen zu können.

Was ist Dein größter Schmerz?
Mein größter Schmerz sind alle Verletzungen, die ich von Menschen habe, die mich für geistig behindert halten und aussondern wollten und noch wollen.

Was wurde Dir am meisten helfen?
Wenn ich wie in dem Seminar überall dazu gehören könnte.

Was war Dein schönstes Erlebnis während des Seminars?
Dass ich ein Teilnehmer war wie alle anderen mit wesentlichen persönlichen Problemen.

Wie nimmst Du die Gedanken anderer Menschen wahr? Hörst Du sie?
Ich höre die Gedanken innerlich, nicht mit den Ohren. Es ist ein Weg der inneren Gedan-kenübertragung. Reden ist kein Weg der inneren Gedankenübertragung, sondern Denken aussprechen. Es ist ein Weg der den Sprechenden verloren geht, wenn sie nicht innerlich hinhören können.

Was war das Schwierigste für Dich während des Seminars?
Nicht aussprechen können was ich denke und fühle.

Was möchtest Du den Lesern dieses Artikels gerne sagen?
Seid aufmerksam, wenn ihr angeblich geistig Behinderte seht, sie haben ihre inneren Besonderheiten mit innerem Wert.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors David Luczyn, im Original hier veröffentlicht.

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